Der Urlaub im Stau
Neulich musste ich auf den Bahamas arbeiten. Um auf diesen karibischen Inselstaat zu kommen, reiste ich mit Zwischenstopp in Miami/ USA an. Das hat sehr viel Zeit im Vorfeld und am Flughafen in Anspruch genommen. Ohne Reisepass statt Personalausweis und ein ESTA-Visum ging gar nichts. Als das Flugzeug gelandet ist, erfolgte zunächst eine elektronische Befragung und ein Finger- und Gesichtsscan an einem Automaten. Anschließend fand dasselbe Spiel am Schalter mit einem amerikanischen Grenzbeamten statt. Dass war für mich völlig neu.
Seit meiner Kindheit kenne ich nur offene Grenzen in Europa. „Mal eben“ nach Holland zum Shoppen, ans Meer oder einfach mal bei einer ausgedehnten Radtour die Grenzen überqueren. Im Urlaub nach Frankreich, Italien, Spanien oder nach Österreich – das alles nur mit einem Personalausweis und meist ganz ohne Kontrollen.
Ich bin in einer Zeit groß geworden, in der Dank des Schengener-Abkommens die Grenzen in fast ganz Europa offen und Grenzkontrollen abgeschafft sind. Doch das war nicht immer so.
Wenn ich meine Mutter frage, wie es denn früher war, in die Niederlande einzureisen, dann bekomme ich einige Geschichten von der Grenze zu hören. Viele beginnen mit Stau an den Grenzübergängen. Sie erzählt von Beamten, die jedes Auto einzeln, oftmals inklusive Kofferraum kontrollierten. Auch Personen- und Passkontrollen gab es, aber nicht mit Fingerscan und EDV- Auswertung. Ein Beamter nahm den Ausweis und verschwand gefühlte Ewigkeiten im Büro, um die Personalausweisnummer mit telefonbuchdicken Fahndungslisten/Büchern abzugleichen. Da verbrachte man den Urlaub zunächst im Stau an der Grenze. Da war nichts mit „mal eben“ nach Holland fahren.
Jetzt sagen viele: „Ja, das war ja früher. Die Reisefreiheit ist ja heute im Schengener-Abkommen und der Europäischen Union fest verankert.“ Trotzdem – die Reisefreiheit bröckelt.
Verfolgt man regelmäßig die Nachrichten, findet man viele Beispiele von Ländern, die an der Errungenschaft der Reisefreiheit kratzen.
Frankreich hat sich nach den Terroranschlägen seit 2015 und dem Ausrufen des Ausnahmezustands dazu entschieden, Grenzkontrollen an allen Landesgrenzen, auch zu Deutschland, zu intensivieren, was auch hier zu Einschränkungen im Reiseverkehr führt.
Das jedoch gravierendste Beispiel aus der letzten Zeit ist Ungarns Umgang mit der Reisefreiheit. Mit dem Inkrafttreten der EU-Verordnung 458/2017 zur Änderung des Schengener Grenzkodex muss beim Überschreiten aller ungarischer Grenzen nicht nur die Gültigkeit von Reisedokumenten überprüft werden, sondern auch jedes Reisedokument systematisch mit einschlägigen Datenbanken abgeglichen werden.
Diese Kontrollpflicht trifft auch EU-Bürger und andere Personen, die EU-Freizügigkeit genießen. Diese Art der Einreise hat schon mehr mit einer Einreise in die USA zu tun als mit der ursprünglichen Idee des Schengener Abkommens.
Deshalb hat sich die Kolpingjugend in der Stellungnahme „Mehr Europa ist die Lösung – Für die Einheit Europas und gegen nationale Alleingänge“ gegen eine solche Grenzundurchlässigkeit positioniert.
„Durch den grenzenlosen Personen- und Güteraustausch (Reisefreiheit) innerhalb der EU ist die europäische Idee in unvergleichlicher Weise verwirklicht worden. Die temporäre Aussetzung des Schengener Abkommens durch verschiedene Mitgliedsstaaten ist jedoch zu einer großen Gefahr für diese europäische Grundfreiheit geworden. Die Kolpingjugend fordert daher die strikte Beibehaltung des freien Personen- und Güteraustauschs innerhalb der EU. Freier Grenzverkehr ist und bleibt die notwendige Voraussetzung für einen intensiven Austausch zwischen den Völkern Europas.“
Ich persönlich schätze die Zeit der offenen Grenzen, der Reisefreiheit und die Möglichkeiten, die ich dadurch bekomme – das „mal eben“ in ein anderes Land reisen und andere Orte, Menschen und Kulturen kennen zu lernen, so wie ich es seit meiner Kindheit gewohnt bin. Wenn sich noch mehr Staaten abschotten und ihre Grenzen dicht machen, beziehungsweise stundenlange Grenzkontrollen einführen, wird reisen nicht mehr unbeschwert möglich sein. Aus diesem Grund lohnt es sich, für die Reisefreiheit und offene Grenzen einzustehen.
Vincent Stenmans
Diözesanleiter der Kolpingjugend DV Aachen